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Der Begriff der „Niederlassung“ im Europarecht

Niederlassung und Europarecht

Der Begriff der „Niederlassung“ im Europarecht

Der Begriff der „Niederlassung“ wird im EU-Recht, insbesondere im Kontext der Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV, zwar erwähnt, aber nicht detailliert definiert. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat jedoch im Laufe der Jahre durch seine Rechtsprechung die Kriterien und die Bedeutung dieses Begriffs konkretisiert.

1. Niederlassung im Sinne der Art. 49 und 54 AEUV

Art. 49 AEUV garantiert die Niederlassungsfreiheit für natürliche und juristische Personen innerhalb der EU. Dieser Artikel umfasst die Freiheit, sich in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, dort Unternehmen zu gründen und selbstständige Erwerbstätigkeiten auszuüben.

Art. 54 AEUV erweitert diesen Schutz auf juristische Personen, indem er Gesellschaften, die nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründet wurden und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung in der EU haben, die gleichen Rechte wie natürlichen Personen gewährt.

Art. 54 (ex-Artikel 48 EGV)

Für die Anwendung dieses Kapitels stehen die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Union haben, den natürlichen Personen gleich, die Angehörige der Mitgliedstaaten sind.

Als Gesellschaften gelten die Gesellschaften des bürgerlichen Rechts (GbR) und des Handelsrechts einschließlich der Genossenschaften und die sonstigen juristischen Personen des öffentlichen und privaten Rechts mit Ausnahme derjenigen, die keinen Erwerbszweck verfolgen.

Da der Begriff „Niederlassung“ nicht explizit definiert ist, hat der EuGH durch verschiedene Urteile klargestellt, was darunter zu verstehen ist:

Rechtsprechung des EuGH zur Niederlassung

  • Rs. Stauffer (C-386/04): Der EuGH entschied, dass eine dauerhafte Präsenz im Niederlassungsstaat erforderlich ist, um von der Niederlassungsfreiheit profitieren zu können. Diese dauerhafte Präsenz kann beispielsweise durch die aktive Verwaltung eines Grundstücks im Aufnahmestaat belegt werden.
  • Rs. Cadbury Schweppes (C-196/04): In diesem Fall stellte der EuGH klar, dass für die Anerkennung einer Niederlassung bestimmte Substanzerfordernisse erfüllt sein müssen. Dazu gehören das Vorhandensein von Geschäftsräumen, Personal und Wirtschaftsgütern. Der EuGH betonte, dass die Gründung einer Tochtergesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat nur dann als Missbrauch der Niederlassungsfreiheit angesehen werden kann, wenn es sich um eine rein künstliche Gestaltung handelt, die keine tatsächliche wirtschaftliche Tätigkeit entfaltet.

Diese Urteile verdeutlichen, dass die Niederlassung nicht nur formale Kriterien erfüllen muss, sondern auch eine tatsächliche wirtschaftliche Präsenz im Aufnahmestaat nachweisbar sein muss.

Briefkastengesellschaftsrichtlinie

Von einer Niederlassung abzugrenzen sind Briefkastengesellschaften. Die Briefkastengesellschaftsrichtlinie (auch bekannt als „Unshell Directive“) ist eine vorgeschlagene EU-Richtlinie, die sich mit der Bekämpfung von sogenannten Briefkastenfirmen oder Briefkastengesellschaften befasst.

Der Fall Centro di Musicologia Walter Stauffer (C-386/04)

Der Fall Centro di Musicologia Walter Stauffer (C-386/04) ist ein bedeutendes Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zur Auslegung des Begriffs der „Niederlassung“ im Sinne der Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV.

Sachverhalt:

Der Fall Centro di Musicologia Walter Stauffer (C-386/04) befasste sich mit der Frage, ob eine gemeinnützige Stiftung, die in einem Mitgliedstaat der EU ansässig ist und in einem anderen Mitgliedstaat Einkünfte erzielt, eine Steuerbefreiung nach dem nationalen Recht des Staates, in dem die Einkünfte erzielt wurden, beanspruchen kann.

Sachverhalt:

Die italienische Stiftung „Centro di Musicologia Walter Stauffer“ war Eigentümerin eines Grundstücks in Deutschland, das sie durch eine Hausverwaltung vermietete. Nach deutschem Steuerrecht waren nur inländische, gemeinnützige Stiftungen von der Körperschaftsteuer befreit. Die Stiftung beantragte die Steuerbefreiung für ihre Einkünfte aus der Vermietung, was von den deutschen Behörden abgelehnt wurde, da sie als ausländische Stiftung nicht in den Genuss der Steuerbefreiung kommen konnte.

Um das Prüfschema des EuGH im Bereich der Grundfreiheiten anhand des § 5 Abs. 2 Nr. 2 KStG und des Urteils in der Rechtssache Centro di Musicologia Walter Stauffer darzustellen, wird wie folgt vorgegangen:

1. Schutzbereich

Zunächst wird geprüft, ob der Anwendungsbereich einer der Grundfreiheiten des EU-Rechts betroffen ist. Im Fall von Centro di Musicologia Walter Stauffer war der freie Kapitalverkehr nach Art. 63 AEUV betroffen, da es um die steuerliche Behandlung von Einkünften aus der Vermietung eines inländischen Grundstücks ging, das im Eigentum einer ausländischen gemeinnützigen Stiftung stand.

2. Beeinträchtigung

Es wird geprüft, ob die nationale Regelung die Ausübung dieser Grundfreiheit beeinträchtigt. Im vorliegenden Fall bestand die Beeinträchtigung darin, dass § 5 Abs. 2 Nr. 2 KStG ausländische gemeinnützige Körperschaften von der Steuerbefreiung ausschließt, die inländischen Körperschaften gewährt wird, was zu einer Diskriminierung aufgrund des Sitzes der Körperschaft führte.

3. Rechtfertigung

Eine Beeinträchtigung der Grundfreiheit kann gerechtfertigt sein, wenn zwingende Gründe des Allgemeininteresses vorliegen. Zwei häufig anerkannte Rechtfertigungsgründe sind:

  • Kohärenz des Steuersystems: Die Wechselwirkung bedeutet, dass die Anerkennung des gemeinnützigen Zwecks einer Organisation direkt die Möglichkeit zur Steuerbefreiung beeinflusst. Im Fall „Stauffer“ war entscheidend, dass der gemeinnützige Zweck der Stiftung auch über nationale Grenzen hinweg anerkannt und die Steuerbefreiung dementsprechend gewährt werden sollte. Die Notwendigkeit, die Kohärenz des nationalen Steuersystems zu wahren, könnte somit eine unterschiedliche steuerliche Behandlung rechtfertigen. Im Fall von Centro di Musicologia Walter Stauffer wurde argumentiert, dass die Steuerbefreiung an inländische Stiftungen gebunden ist, da sie in das nationale soziale Leben eingebunden sind und eine staatliche Aufgabe übernehmen.
  • Wirksamkeit der Steueraufsicht: Ein weiterer Rechtfertigungsgrund könnte die Wirksamkeit der Steueraufsicht sein, insbesondere die Schwierigkeit der Kontrolle ausländischer Körperschaften. Auch dies wurde im Fall Stauffer diskutiert.

4. Verhältnismäßigkeit

Schließlich wird geprüft, ob die nationale Maßnahme verhältnismäßig ist, d.h., ob sie geeignet, erforderlich und angemessen ist, um das legitime Ziel zu erreichen. Im Fall Centro di Musicologia Walter Stauffer stellte der EuGH fest, dass die Diskriminierung nicht verhältnismäßig war, da die steuerliche Ungleichbehandlung über das hinausging, was zur Erreichung der Kohärenz des Steuersystems erforderlich war.

Der EuGH entschied, dass die Regelung in § 5 Abs. 2 Nr. 2 KStG, die ausländische gemeinnützige Körperschaften von der Steuerbefreiung ausschließt, gegen den freien Kapitalverkehr verstößt und nicht gerechtfertigt werden kann. Damit war die nationale Regelung nicht EU-rechtskonform.

Wesentliche Punkte der EuGH-Entscheidung:

  1. Niederlassungsfreiheit: Der EuGH stellte fest, dass die Stiftung durch den Besitz und die aktive Verwaltung eines Grundstücks eine „dauerhafte Präsenz“ im Niederlassungsstaat (Deutschland) hatte und somit die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV anwendbar war.
  2. Kapitalverkehrsfreiheit: Zusätzlich wurde die Kapitalverkehrsfreiheit gemäß Art. 63 AEUV relevant, da es sich bei der Vermietung und aktiven Verwaltung des Grundstücks um eine Kapitalbewegung handelte (subsidiär zur Dienstleistungsfreiheit). Der EuGH betonte, dass Beschränkungen dieser Freiheiten nur durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden können, was im vorliegenden Fall nicht gegeben war.
  3. Diskriminierung: Die unterschiedliche Behandlung der italienischen Stiftung im Vergleich zu inländischen Stiftungen wurde als diskriminierend bewertet, da sie keinen objektiven Rechtfertigungsgrund hatte. Die bloße Tatsache, dass eine Stiftung in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, rechtfertigt keine unterschiedliche steuerliche Behandlung.

Im Urteil des EuGH in der Rechtssache Centro di Musicologia Walter Stauffer (C-386/04) wurde explizit auf die Amtshilferichtlinie (Richtlinie 77/799/EWG, geändert durch die Richtlinie 2004/106/EG) Bezug genommen.

Der EuGH führte aus, dass nationale Steuerbehörden die Möglichkeit haben, Informationen von den Behörden anderer Mitgliedstaaten anzufordern, um sicherzustellen, dass die steuerlichen Voraussetzungen, wie etwa die Gemeinnützigkeit, auch bei ausländischen Stiftungen erfüllt sind. Der EuGH entschied, dass die pauschale Weigerung, ausländischen Stiftungen die gleiche Steuerbefreiung zu gewähren wie inländischen, nicht gerechtfertigt ist, insbesondere weil die Amtshilferichtlinie den Mitgliedstaaten die notwendigen Mittel zur Verfügung stellt, um die erforderlichen Prüfungen durchzuführen.

Wirksamkeit der Steueraufsicht: Der EuGH erkannte die Wirksamkeit der Steueraufsicht als einen legitimen Rechtfertigungsgrund an, stellte jedoch klar, dass bloße verwaltungstechnische Nachteile, die durch die Prüfung einer ausländischen Stiftung entstehen könnten, nicht ausreichen, um eine ungleiche steuerliche Behandlung zu rechtfertigen.

Nutzung der Amtshilferichtlinie: Der Gerichtshof betonte, dass die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, sich auf die Amtshilferichtlinie zu stützen, um die notwendigen Informationen zur Prüfung der Gemeinnützigkeit zu erhalten. Dadurch könnten die nationalen Steuerbehörden sicherstellen, dass auch ausländische Stiftungen die Voraussetzungen für eine Steuerbefreiung erfüllen, ohne dass diese aufgrund ihres ausländischen Sitzes benachteiligt werden.

Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) im Fall Centro di Musicologia Walter Stauffer (C-386/04) musste Deutschland seine steuerlichen Regelungen anpassen, um den Anforderungen des EU-Rechts gerecht zu werden und Diskriminierungen aufgrund des Sitzes von gemeinnützigen Organisationen in anderen EU-Mitgliedstaaten zu beseitigen. Die Anpassungen betrafen vor allem das Körperschaftsteuergesetz (KStG) sowie damit verbundene Vorschriften im Steuerrecht.

§ 5 KStG – Steuerbefreiungen

(2) Die Befreiungen nach Absatz 1 und nach anderen Gesetzen als dem Körperschaftsteuergesetz gelten nicht (…)

2. für beschränkt Steuerpflichtige im Sinne des § 2 Nr. 1, es sei denn, es handelt sich um Steuerpflichtige im Sinne des Absatzes 1 Nr. 9, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats der Europäischen Union oder nach den Rechtsvorschriften eines Staates, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 3. Januar 1994 (ABl. EG Nr. L 1 S. 3), zuletzt geändert durch den Beschluss des Gemeinsamen EWR-Ausschusses Nr. 91/2007 vom 6. Juli 2007 (ABl. EU Nr. L 328 S. 40), in der jeweiligen Fassung Anwendung findet, gegründete Gesellschaften im Sinne des Artikels 54 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union oder des Artikels 34 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum sind, deren Sitz und Ort der Geschäftsleitung sich innerhalb des Hoheitsgebiets eines dieser Staaten befindet, und mit diesen Staaten ein Amtshilfeabkommen besteht.

    Vor dem Urteil war die Steuerbefreiung für gemeinnützige Körperschaften, die in Deutschland Körperschaftsteuer auf ihre Einkünfte zahlen, auf solche Körperschaften beschränkt, die in Deutschland ansässig waren. Nach dem EuGH-Urteil wurde § 5 Abs. 2 Nr. 2 KStG dahingehend angepasst, dass auch ausländische Körperschaften, die ihren Sitz in einem anderen EU-Mitgliedstaat oder einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) haben und dort als gemeinnützig anerkannt sind, unter bestimmten Bedingungen von der deutschen Körperschaftsteuer befreit werden können.

      § 2 KStG – Unbeschränkte und beschränkte Steuerpflicht

      Auch § 2 KStG, der die unbeschränkte und beschränkte Steuerpflicht regelt, wurde präzisiert, um klarzustellen, dass ausländische gemeinnützige Körperschaften, die in Deutschland Einkünfte erzielen, unter die Steuerbefreiung fallen können, wenn sie die entsprechenden Voraussetzungen erfüllen. Insbesondere wurde festgelegt, dass beschränkt steuerpflichtige gemeinnützige Körperschaften, die in einem anderen EU-Mitgliedstaat ansässig sind und dort steuerlich begünstigt werden, in Deutschland nicht benachteiligt werden dürfen.

      Substanznachweise und Verwaltungsvorschriften

      Nach dem Urteil musste auch die Verwaltungspraxis angepasst werden, insbesondere in Bezug auf den Nachweis der Gemeinnützigkeit und die Anerkennung ausländischer Gemeinnützigkeit.

      Verwaltungsanweisungen und Substanznachweise

      Die Finanzverwaltung erließ Richtlinien und Verwaltungsanweisungen, um sicherzustellen, dass die Gemeinnützigkeit einer ausländischen Stiftung nachgewiesen werden kann. Diese Anweisungen stellten klar, welche Unterlagen und Nachweise eine ausländische Organisation vorlegen muss, um in Deutschland als gemeinnützig anerkannt zu werden und in den Genuss der Steuerbefreiung zu kommen. Dazu gehören beispielsweise die Vorlage von Bescheinigungen der ausländischen Steuerbehörden und Nachweise über die tatsächliche Durchführung gemeinnütziger Aktivitäten.

      § 51 ff. Abgabenordnung (AO)

      Die Vorschriften zur Gemeinnützigkeit in der Abgabenordnung (§ 51 ff. AO) wurden ebenfalls angepasst und konkretisiert. Diese Vorschriften legen die Kriterien fest, nach denen eine Organisation als gemeinnützig anerkannt wird. Auch hier wurden Anpassungen vorgenommen, um sicherzustellen, dass die Kriterien für die Anerkennung einer ausländischen Organisation als gemeinnützig im Einklang mit dem EU-Recht stehen.

      Relevanz und Auswirkungen:

      Dieses Urteil führte dazu, dass der deutsche Gesetzgeber die Vorschriften anpassen musste. Seitdem können auch ausländische, gemeinnützige Stiftungen unter bestimmten Bedingungen eine Steuerbefreiung in Deutschland in Anspruch nehmen. Dies stärkt die Niederlassungsfreiheit und die Kapitalverkehrsfreiheit innerhalb der EU und stellt sicher, dass Einrichtungen, die in einem Mitgliedstaat tätig sind, nicht ungerechtfertigt benachteiligt werden

      3. Weitere Umsetzung durch den deutschen Gesetzgeber

      Der deutsche Gesetzgeber hat diese EuGH-Rechtsprechung durch verschiedene Regelungen im Steuerrecht umgesetzt:

      • § 50d Abs. 3 EStG: Diese Vorschrift regelt den Nachweis der tatsächlichen wirtschaftlichen Tätigkeit im Zusammenhang mit der Steuerbefreiung von Dividenden und anderen Einkünften aus ausländischen Quellen. Sie verlangt, dass der Steuerpflichtige nachweist, dass eine tatsächliche wirtschaftliche Tätigkeit vorliegt, um Missbrauch zu vermeiden.
      • § 8 Abs. 2-4 AStG: In Anlehnung an das Cadbury Schweppes-Urteil regelt § 8 AStG die Hinzurechnungsbesteuerung ausländischer Tochtergesellschaften. Der Gesetzgeber hat Substanzkriterien eingeführt, um sicherzustellen, dass nur solche Einkünfte hinzugerechnet werden, die aus einer rein künstlichen Gestaltung ohne tatsächliche wirtschaftliche Tätigkeit stammen.

      Fazit

      Der Begriff der „Niederlassung“ im Europarecht ist eng mit den Grundfreiheiten der EU verbunden, insbesondere der Niederlassungsfreiheit. Die EuGH-Rechtsprechung hat klare Kriterien festgelegt, um sicherzustellen, dass diese Freiheit nicht missbraucht wird, und der deutsche Gesetzgeber hat diese Vorgaben in nationales Recht umgesetzt, um eine unionsrechtskonforme Anwendung zu gewährleisten.

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