Supranationalität ist ein zentrales Rechtsprinzip innerhalb der Europäischen Union (EU). Es bedeutet, dass die Mitgliedstaaten Teile ihrer Souveränität auf die EU übertragen haben, sodass EU-Institutionen in bestimmten Bereichen übergeordnete Entscheidungen treffen können, die für alle Mitgliedstaaten verbindlich sind. Dieses Prinzip führt dazu, dass EU-Recht Vorrang vor nationalem Recht hat. Das Prinzip der Supranationalität wird durch Artikel 1 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) und Artikel 23 des Grundgesetzes (GG) unterstützt und bildet die Grundlage dafür, dass das EU-Recht einheitlich in allen Mitgliedstaaten angewendet wird.
Geltungserhaltende Reduktion bezieht sich auf die juristische Methode, nationale Gesetze so anzuwenden, dass sie mit EU-Recht vereinbar sind. Wenn eine nationale Norm mit EU-Recht kollidiert, wird sie durch die geltungserhaltende Reduktion auf einen Bereich reduziert, der mit dem EU-Recht in Einklang steht, anstatt sie vollständig für ungültig zu erklären. Dieses Prinzip wurde beispielsweise im Zusammenhang mit der Anwendung des § 50d Abs. 3 Einkommensteuergesetzes (EStG) verwendet. Hier hat das Finanzgericht Köln entschieden, dass die Missbrauchsbekämpfungsvorschrift des § 50d Abs. 3 EStG auf künstliche Gestaltungen beschränkt und damit unionsrechtskonform interpretiert werden muss. Dies ist ein Beispiel für die Anwendung der geltungserhaltenden Reduktion, um den Vorrang des Unionsrechts zu wahren.
Hier sind einige konkrete Beispiele, die die Rechtsinstitute der Supranationalität und der geltungserhaltenden Reduktion verdeutlichen:
Supranationalität
Ein Beispiel für die Supranationalität in der EU ist die Gemeinsame Handelspolitik der EU. In diesem Bereich haben die Mitgliedstaaten ihre Souveränität auf die EU übertragen, sodass die Europäische Kommission im Namen der EU Handelsabkommen mit Drittstaaten aushandeln und abschließen kann. Diese Abkommen sind für alle Mitgliedstaaten verbindlich, selbst wenn einzelne Länder dem Abkommen möglicherweise nicht zugestimmt hätten, wenn sie auf nationaler Ebene darüber entschieden hätten. Dies zeigt, wie die Mitgliedstaaten im Bereich der Handelspolitik zugunsten einer gemeinsamen europäischen Politik auf einen Teil ihrer Souveränität verzichtet haben.
Nationalstaatliche Souveränität bezeichnet das Prinzip, dass ein Staat die höchste Autorität über seine inneren Angelegenheiten hat und frei von äußerer Kontrolle ist. Dies umfasst die Unabhängigkeit in der Gesetzgebung, der Rechtsprechung und der Ausführung staatlicher Funktionen innerhalb des eigenen Territoriums.
In der Europäischen Union (EU) führt das Prinzip der Supranationalität jedoch dazu, dass Mitgliedstaaten einen Teil ihrer nationalstaatlichen Souveränität auf die EU übertragen. Dies geschieht, um gemeinsame Ziele und eine engere Integration innerhalb der Union zu erreichen. Beispielsweise unterliegt die Gesetzgebung in bestimmten Bereichen, wie dem Binnenmarkt oder der Handelspolitik, der supranationalen Ebene, was bedeutet, dass EU-Recht in diesen Bereichen Vorrang vor nationalem Recht hat.
§ 50d Anwendung von Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung (nationale Missbrauchsregelung)
(3) 1Eine Körperschaft, Personenvereinigung oder Vermögensmasse hat auf der Grundlage eines Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung keinen Anspruch auf Entlastung von der Kapitalertragsteuer und vom Steuerabzug nach § 50a, soweit
- Personen an ihr beteiligt oder durch die Satzung, das Stiftungsgeschäft oder die sonstige Verfassung begünstigt sind, denen dieser Anspruch nicht zustünde, wenn sie die Einkünfte unmittelbar erzielten, und
- die Einkunftsquelle keinen wesentlichen Zusammenhang mit einer Wirtschaftstätigkeit dieser Körperschaft, Personenvereinigung oder Vermögensmasse aufweist; das Erzielen der Einkünfte, deren Weiterleitung an beteiligte oder begünstigte Personen sowie eine Tätigkeit, soweit sie mit einem für den Geschäftszweck nicht angemessen eingerichteten Geschäftsbetrieb ausgeübt wird, gelten nicht als Wirtschaftstätigkeit.2Satz 1 findet keine Anwendung, soweit die Körperschaft, Personenvereinigung oder Vermögensmasse nachweist, dass keiner der Hauptzwecke ihrer Einschaltung die Erlangung eines steuerlichen Vorteils ist, oder wenn mit der Hauptgattung der Anteile an ihr ein wesentlicher und regelmäßiger Handel an einer anerkannten Börse stattfindet. 3§ 42 der Abgabenordnung bleibt unberührt.
Geltungserhaltende Reduktion
Ein bekanntes Beispiel für die geltungserhaltende Reduktion ist die Anwendung von § 50d Abs. 3 Einkommensteuergesetz (EStG) in Deutschland:
- Sachverhalt: § 50d Abs. 3 EStG regelt die Beschränkung der Freistellung von Dividenden, Zinsen und Lizenzgebühren aus Drittstaaten, um Missbrauch zu verhindern. Diese Vorschrift wurde als zu weitreichend angesehen, weil sie in ihrer ursprünglichen Fassung auch rechtmäßige wirtschaftliche Aktivitäten beeinträchtigen konnte.
- EuGH-Urteil: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschied, dass diese Regelung gegen die Kapitalverkehrsfreiheit verstoßen könnte, da sie auch legitime wirtschaftliche Aktivitäten von der Steuerfreistellung ausschloss.
- Geltungserhaltende Reduktion: Um die Vorschrift unionsrechtskonform anzuwenden, wurde sie durch die deutsche Rechtsprechung so ausgelegt, dass sie nur auf Fälle von Missbrauch oder rein künstliche Gestaltungen angewendet wird, nicht jedoch auf legitime Geschäftsaktivitäten. So blieb die Norm erhalten, wurde aber in ihrem Anwendungsbereich auf eine Weise reduziert, die mit EU-Recht vereinbar ist.
Die geltungserhaltende Reduktion ermöglicht es, nationale Rechtsnormen so anzuwenden, dass sie trotz potenzieller EU-Rechtswidrigkeit weiterhin wirksam bleiben, indem lediglich die Teile der Norm angepasst oder herausgefiltert werden, die gegen EU-Recht verstoßen. Auf diese Weise wird die Norm insgesamt erhalten, aber an die Anforderungen des EU-Rechts angepasst.
Anwendung auf die §§ 14 ff. KStG (Körperschaftsteuergesetz)
Im Kontext der Organschaft nach den §§ 14 ff. KStG bedeutet die geltungserhaltende Reduktion, dass die Normen so ausgelegt werden, dass auch EU-ausländische Gesellschaften als Organgesellschaften anerkannt werden können, wenn sie die übrigen Voraussetzungen erfüllen.
§ 14 Aktiengesellschaft oder Kommanditgesellschaft auf Aktien als Organgesellschaft
(1) 1Verpflichtet sich eine Europäische Gesellschaft, Aktiengesellschaft oder Kommanditgesellschaft auf Aktien mit Geschäftsleitung im Inland und Sitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem Vertragsstaat des EWR-Abkommens (Organgesellschaft) durch einen Gewinnabführungsvertrag im Sinne des § 291 Abs. 1 des Aktiengesetzes, ihren ganzen Gewinn an ein einziges anderes gewerbliches Unternehmen abzuführen, ist das Einkommen der Organgesellschaft, soweit sich aus § 16 nichts anderes ergibt, dem Träger des Unternehmens (Organträger) zuzurechnen, wenn die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:
(…)
3.1Der Gewinnabführungsvertrag muss auf mindestens fünf Jahre abgeschlossen und während seiner gesamten Geltungsdauer durchgeführt werden. (…)
1. Erweiterung des Kreises der Organgesellschaften
- Normale Anwendung: Nach den traditionellen deutschen Regelungen zu §§ 14 ff. KStG kann eine Organschaft nur dann bestehen, wenn die Organgesellschaft eine in Deutschland ansässige Kapitalgesellschaft ist. Das bedeutet, dass nach herkömmlicher Auslegung EU-ausländische Gesellschaften, die ihre Geschäftsleitung im Ausland haben, ausgeschlossen wären.
- Geltungserhaltende Reduktion: Durch die Anwendung der geltungserhaltenden Reduktion können EU-ausländische Gesellschaften, die ihre Geschäftsleitung im EU-Ausland haben, ebenfalls als Organgesellschaften anerkannt werden, wenn sie die Anforderungen an die wirtschaftliche Eingliederung und die einheitliche Leitung erfüllen. Damit wird die Regelung so angepasst, dass sie nicht gegen die EU-Grundfreiheiten verstößt, insbesondere gegen die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV.
2. Verlustübernahmevereinbarung
- Normale Anwendung: Die Regelung der Organschaft verlangt eine schuldrechtliche Vereinbarung, wonach die Organgesellschaft ihre Gewinne und Verluste an den Organträger abführt. Diese Vereinbarung muss mindestens fünf Jahre bestehen und tatsächlich durchgeführt werden, um steuerlich anerkannt zu werden.
- Geltungserhaltende Reduktion: Selbst wenn die Organgesellschaft ihren Sitz im EU-Ausland hat, könnte die Verlustübernahmeverpflichtung nach deutschem Recht anerkannt werden, solange die tatsächliche Durchführung der Vereinbarung sichergestellt ist und die Vereinbarung den deutschen Anforderungen entspricht. Das bedeutet, dass das Erfordernis der Verlustübernahme auf fünf Jahre und die tatsächliche Durchführung auch auf EU-ausländische Organgesellschaften angewendet werden können, ohne dass dies gegen EU-Recht verstößt.
Durch die Anwendung der geltungserhaltenden Reduktion können die Vorschriften der §§ 14 ff. KStG so angepasst werden, dass sie EU-rechtskonform sind. EU-ausländische Gesellschaften können als Organgesellschaften anerkannt werden, wenn sie die sonstigen Anforderungen erfüllen, insbesondere die wirtschaftliche Eingliederung und die schuldrechtliche Verlustübernahmevereinbarung. Damit bleibt die Norm wirksam, und lediglich die EU-rechtswidrigen Tatbestandsmerkmale werden herausgefiltert bzw. entsprechend angepasst.