Das Urteil des EuGH in der Rechtssache Avoir fiscal“ (Rs. 270/83) aus dem Jahr 1986 ist ein wegweisendes Grundsatzurteil im Bereich der direkten Steuern, weil es erstmals die Anwendung der EU-Grundfreiheiten im Kontext der direkten Steuern klargestellt hat.
Sachverhalt: Der Fall betraf die Diskriminierung ausländischer Versicherungsunternehmen durch das französische Steuergutschrift-System, das diesen Unternehmen nicht das gleiche Anrechnungsrecht gewährte wie inländischen Unternehmen. Die französische Regierung gewährte ein sogenanntes „Avoir fiscal“ (Steuerguthaben) für Dividenden, die von französischen Unternehmen ausgeschüttet wurden. Dieses Steuerguthaben wurde jedoch nur an inländische Gesellschaften gewährt, während Zweigniederlassungen und Agenturen von in anderen Mitgliedstaaten ansässigen Gesellschaften davon ausgeschlossen waren.
Gegenstand des Vertragsverletzungsverfahrens gegen Frankreich war die Benachteiligung von Versicherungsunternehmen anderer Mitgliedsstaaten, die Betriebsstätten in Frankreich unterhielten. Die Betriebsstätten der ausländischen Versicherungsunternehmen hielten Beteiligungen an französische Tochterkapitalgesellschaften. Den Betriebsstätten wurde die Anrechnung der auf Ebene der französischen Tochtergesellschaft gezahlten Körperschaftsteuer (avoir fiscal) versagt. Französische Kapitalgesellschaften dagegen waren zur Anrechnung der auf der Ebene ihrer französischen Tochtergesellschaft erhobenen Körperschaftssteuer berechtigt.
Die Europäische Kommission klagte gegen Frankreich und argumentierte, dass diese Praxis gegen die Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 52 EWG-Vertrag (heute Art. 49 AEUV) verstoße, da sie eine Diskriminierung von Gesellschaften aus anderen Mitgliedstaaten darstelle, die sich in Frankreich niederlassen wollten. Der EuGH entschied, dass diese Praxis eine unzulässige Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstellte und somit gegen EU-Recht verstieß.
Dieses Urteil war wegweisend, weil es den Weg für die Anwendung der Grundfreiheiten auf das nationale Steuerrecht ebnete, obwohl direkte Steuern grundsätzlich in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen. Es hat verdeutlicht, dass die EU-Grundfreiheiten auch im Bereich der direkten Steuern eine bedeutende Rolle spielen und dass die Diskriminierung aufgrund des Sitzes einer Gesellschaft innerhalb der EU unzulässig ist. Das Urteil stärkte die Bedeutung der Niederlassungsfreiheit und legte den Grundstein für eine einheitlichere steuerliche Behandlung innerhalb der EU.
Das Prüfschema für die Bewertung einer EU-rechtskonformen Regelung anhand des Urteils des EuGH in der Rechtssache Avoir fiscal (Rs. 270/83) wird wie folgt dargestellt:
1. Schutzbereich
- Zunächst wird geprüft, ob der Sachverhalt in den Schutzbereich einer der EU-Grundfreiheiten fällt. Im Fall von Avoir fiscal war dies die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV). Diese Freiheit umfasst das Recht von Unternehmen und Gesellschaften, sich in einem anderen EU-Mitgliedstaat niederzulassen und dort wirtschaftlich tätig zu sein. Es wird auch geprüft, ob eine sekundäre Niederlassung (wie eine Tochtergesellschaft oder eine Betriebsstätte) betroffen ist.
2. Beeinträchtigung
- Es wird untersucht, ob die nationale Maßnahme den Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit beeinträchtigt. Im Fall von Avoir fiscal führte die unterschiedliche steuerliche Behandlung von inländischen und ausländischen Unternehmen zu einer offenen Diskriminierung (Differenzierung nach Sitz) und verstößt gegen die Niederlassungsfreiheit. Auch die Möglichkeit einer versteckten Diskriminierung wird berücksichtigt. Hier geht es darum, ob die Regelung in der Praxis ausländische Unternehmen benachteiligt. Es besteht u.a. auch das Gebot der Inländer(gleich)behandlung von Gesellschaften aus anderen Mitgliedsstaaten.
3. Rechtfertigung
- Eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten kann gerechtfertigt sein, wenn sie einem legitimen Ziel dient und verhältnismäßig ist. Im Fall Avoir fiscal wurde die fehlende Harmonisierung (d.h. keine übertragene Kompetenz) der direkten Steuern auf EU-Ebene als mögliche Rechtfertigung betrachtet, aber letztlich abgelehnt, weil die Niederlassungsfreiheit unbedingt ist. Die französische Regierung hatte versucht, die Regelung mit verschiedenen Argumenten zu rechtfertigen, darunter die Möglichkeit des Vorteilsausgleich, die fehlende Kompetenz der EU im Bereich der direkten Steuern. Es wurde zudem geprüft, ob eine unterschiedliche Behandlung durch ein Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) ausgeglichen werden könnte, was jedoch nicht ausreichte. Der EuGH lehnte all diese Argumente ab und entschied, dass keine Rechtfertigung für die Ungleichbehandlung vorlag.
4. Verhältnismäßigkeit
- Schließlich wird geprüft, ob die nationale Maßnahme verhältnismäßig ist, d. h., ob sie geeignet, erforderlich und angemessen ist, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Im Urteil Avoir fiscal kam der EuGH zu dem Schluss, dass die Maßnahme der französischen Regierung nicht verhältnismäßig war, da sie über das hinausging, was zur Erreichung des Ziels notwendig war. Die Regelung war daher nicht EU-rechtskonform.
Das EuGH-Urteil in der Rechtssache Avoir fiscal (Rs. 270/83) aus dem Jahr 1986 wird als wegweisendes Grundsatzurteil im Bereich der direkten Steuern betrachtet. Hier sind die Hauptgründe dafür:
- Überwindung der fehlenden Kompetenz: Zum ersten Mal wandte der EuGH die EU-Grundfreiheiten auch auf den Bereich der direkten Steuern an, obwohl die EU ursprünglich keine explizite Kompetenz in diesem Bereich hatte. Damit setzte der EuGH ein deutliches Zeichen, dass die Grundfreiheiten auch auf nationale Steuerregelungen Anwendung finden können.
- Fundamentale Bedeutung der Grundfreiheiten: Das Urteil stellte klar, dass die Grundfreiheiten des Vertrags (wie die Niederlassungsfreiheit) auch im Bereich der direkten Steuern uneingeschränkt gelten. Dies führte zu einer weitreichenden Einbindung des Steuerrechts in den Anwendungsbereich des EU-Rechts.
- Wortlautauslegung und keine Bereichsausnahme: Der EuGH lehnte es ab, für den Bereich der direkten Steuern eine Ausnahme von den Grundfreiheiten zuzulassen. Er wandte eine strikte Wortlautauslegung der Verträge an, was die Geltung der Grundfreiheiten im Steuerrecht bekräftigte.
- Diskriminierung im Steuerrecht: Das Urteil erkannte an, dass Diskriminierungen, die auf dem Sitz einer Gesellschaft beruhen, genauso unzulässig sind wie Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit. Dies führte zu einer stärkeren Gleichbehandlung von in- und ausländischen Unternehmen im Steuerrecht.
- Gleichstellung von Sitz und Staatsangehörigkeit: Der EuGH stellte fest, dass der Sitz einer Gesellschaft im Steuerrecht einer natürlichen Person gleichgestellt werden muss, was bedeutet, dass unterschiedliche steuerliche Behandlungen aufgrund des Sitzes als indirekte Diskriminierung betrachtet werden.
Das Gericht betonte, dass die Niederlassungsfreiheit uneingeschränkt und universell gilt und dass nationale Regelungen, die diese Freiheit einschränken, nur unter sehr strengen Bedingungen gerechtfertigt sein können.
Zusammengefasst gilt das Urteil als wegweisend, weil es den Weg für die Anwendung der EU-Grundfreiheiten auf das nationale Steuerrecht ebnete und die Bedeutung dieser Freiheiten im Kontext der direkten Steuern erheblich stärkte .