15. August 2024

Bedeutung des Binnenmarkts

Der Binnenmarkt und seine Relevanz (Art. 26 Abs. 2 AEUV)

Der Binnenmarkt, der durch den Vertrag von Maastricht und den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) geschaffen wurde, ermöglichte ab 1993 eine weitgehende wirtschaftliche Integration der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Artikel 26 Absatz 2 AEUV definiert den Binnenmarkt als einen Raum ohne Binnengrenzen (freier Verkehr ohne Binnengrenzen), in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist. Dieses Prinzip ist zentral für die EU, da es darauf abzielt, Handelshemmnisse abzubauen und eine engere wirtschaftliche Integration zu fördern.

Für deutsche Konzerne bedeutete der Binnenmarkt eine erhebliche Ausweitung ihrer operativen Möglichkeiten. Die Abschaffung der Zollschranken und die Harmonisierung von Regulierungen schufen einen einheitlichen Markt mit über 300 Millionen Konsumenten (damals), was insbesondere für exportorientierte Unternehmen enorme Wachstumschancen eröffnete. Der Binnenmarkt förderte außerdem den Wettbewerb und zwang Unternehmen dazu, ihre Effizienz und Innovationskraft zu steigern, um auf dem nun größeren und offeneren Markt konkurrenzfähig zu bleiben.

Art. 26 (ex-Artikel 14 EGV)

(1) Die Union erlässt die erforderlichen Maßnahmen, um nach Maßgabe der einschlägigen Bestimmungen der Verträge den Binnenmarkt zu verwirklichen beziehungsweise dessen Funktionieren zu gewährleisten.

(2) Der Binnenmarkt umfasst einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen der Verträge gewährleistet ist.

(3) Der Rat legt auf Vorschlag der Kommission die Leitlinien und Bedingungen fest, die erforderlich sind, um in allen betroffenen Sektoren einen ausgewogenen Fortschritt zu gewährleisten.

Diese vier Grundfreiheiten (gelten universell und allgemein) bilden das Fundament des Binnenmarktes und zielen darauf ab, Handelshemmnisse abzubauen und eine engere wirtschaftliche Integration innerhalb der EU zu fördern.

Vier Grundfreiheiten

  1. Warenverkehrsfreiheit: Ermöglicht den freien Austausch von Waren zwischen den Mitgliedstaaten, ohne dass Zölle, mengenmäßige Beschränkungen oder andere Handelshemmnisse angewendet werden dürfen. Beispiele: Verbot von Ein- und Ausfuhrzöllen, Abschaffung aller mengenmäßigen Beschränkungen Art. 28 ff. AEUV
  2. Personenverkehrsfreiheit: Sichert das Recht der EU-Bürger, sich frei in den Mitgliedstaaten zu bewegen, dort zu arbeiten und zu leben. Beispiele:
  3. Dienstleistungsfreiheit: Gewährleistet, dass Unternehmen und Einzelpersonen Dienstleistungen in anderen Mitgliedstaaten anbieten und empfangen können, ohne dass diese durch diskriminierende oder unverhältnismäßige Maßnahmen behindert werden. Bezieht sich somit auf dieselbe Leistungen wie bei der Niederlassungsfreiheit, allerdings mit vorübergehenden Charakter (verlangt keine dauernde Niederlassung im Aufnahmestaat) Beispiele:
  4. Kapitalverkehrsfreiheit: Bezieht sich auf den freien Fluss von Kapital und Zahlungen zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen der EU und Drittstaaten. Grundsätzlich sind alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs (umfasst Geld – und Sachkapital) zwischen den Mitgliedstaaten verboten. Beispiele

Kapitalverkehrsfreiheit und Niederlassungsfreiheit

Die Kapitalverkehrsfreiheit und Niederlassungsfreiheit, die im Rahmen des Binnenmarktes etabliert wurden, spielten eine Schlüsselrolle in der Restrukturierung und Internationalisierung deutscher Konzerne. Kapitalverkehrsfreiheit bedeutete, dass Investoren Kapital in andere Mitgliedstaaten der EU transferieren und dort investieren konnten, ohne auf Hindernisse zu stoßen. Dies führte zu einer zunehmenden Auflösung der „Deutschland AG“ – einem System, in dem deutsche Unternehmen durch ein Netzwerk gegenseitiger Beteiligungen miteinander verbunden waren und somit eine starke Inlandsorientierung aufwiesen.

Durch die Liberalisierung des Kapitalmarktes und die Möglichkeit für ausländische Investoren, sich an deutschen Unternehmen zu beteiligen, wurden nationale Beteiligungsstrukturen aufgebrochen. Diese Entwicklung wurde durch die Niederlassungsfreiheit verstärkt, die es Unternehmen ermöglichte, Tochtergesellschaften und Betriebsstätten in anderen EU-Ländern zu gründen und so ihre Marktpräsenz zu erweitern.

Besonderheit der Kapitalverkehrsfreiheit

Die Kapitalverkehrsfreiheit hat eine besondere Stellung unter den Grundfreiheiten, da sie nicht nur innerhalb der EU gilt, sondern auch gegenüber Drittstaaten. Dies ist in Art. 63 AEUV festgelegt, der den freien Kapital- und Zahlungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten und zwischen den Mitgliedstaaten und Drittländern garantiert.

Besondere Merkmale:

  1. Universelle Anwendung: Die Kapitalverkehrsfreiheit ist universell anwendbar und nicht nur auf den EU-Binnenmarkt beschränkt. Sie gilt auch für den Kapitalverkehr zwischen der EU und Drittstaaten, was sie einzigartig unter den vier Grundfreiheiten macht.
  2. Umfassender Schutz: Sie umfasst ein breites Spektrum von Transaktionen, einschließlich Direktinvestitionen, Immobilienkäufen, Wertpapiertransaktionen und Bankgeschäften. Dies stellt sicher, dass Kapital in jeglicher Form ohne Beschränkungen zwischen Mitgliedstaaten und Drittstaaten bewegt werden kann.
  3. Gerichtliche Durchsetzbarkeit: Wie die anderen Grundfreiheiten ist auch die Kapitalverkehrsfreiheit gerichtlich durchsetzbar. Betroffene können sich vor nationalen Gerichten oder dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) auf die Kapitalverkehrsfreiheit berufen, um gegen Beschränkungen vorzugehen.
  4. Eingeschränkte Rechtfertigungsmöglichkeiten: Einschränkungen der Kapitalverkehrsfreiheit sind nur unter engen Voraussetzungen zulässig, z. B. aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit. Zudem müssen solche Beschränkungen verhältnismäßig sein.

Herausforderungen im Bereich der direkten Steuern

Art. 26 Abs. 2 AEUV und Art. 115 AEUV spielen eine entscheidende Rolle im Bereich der direkten Steuern innerhalb der Europäischen Union, obwohl die EU keine ausdrückliche Rechtsetzungskompetenz in diesem Bereich der direkten Steuer hat.

Herausforderung: Unterschiedliche nationale Steuersysteme, insbesondere im Bereich der direkten Steuern, können die Idee eines freien Binnenmarkts behindern. Dies steht im Widerspruch zu dem in Art. 26 Abs. 2 AEUV verankerten Ziel eines einheitlichen Binnenmarktes. Freiheiten stoßen an die Grenze der 27 verschiedenen Steuersystem.

Der EUGH sagt dazu folgendes: „Die direkten Steuern fallen nach ständiger Rechtsprechung zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, doch müssen diese ihre Befugnisse unter Wahrung des Unionsrechts ausüben.“ Folge: Vorrang EU-Recht vor nationalen Recht. Das bedeutet jedoch nicht, dass nationale Normen unwirksam sind, es kann nur der EU-rechtswidrige Tatbestand nicht angewendet werden (geltungserhaltende Reduktion).

Art. 115 AEUV (ex-Artikel 94 EGV)

Unbeschadet des Artikels 114 erlässt der Rat gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren einstimmig und nach Anhörung des Europäischen Parlaments und des Wirtschafts- und Sozialausschusses Richtlinien für die Angleichung derjenigen Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten, die sich unmittelbar auf die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarkts auswirken.

Art. 115 AEUV (sog. Binnenmarktkompetenz): Harmonisierung der Steuervorschriften

  • Bedeutung: Art. 115 AEUV bietet die einzige rechtliche Grundlage für die EU, Maßnahmen zur Harmonisierung von Rechtsvorschriften zu ergreifen, die direkt den Binnenmarkt betreffen. Diese Harmonisierung erfolgt in Form von Richtlinien, die von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden (müssen).
  • Anwendung auf direkte Steuern: Obwohl die direkte Steuerhoheit bei den Mitgliedstaaten liegt, ermöglicht Art. 115 AEUV der EU, harmonisierende Maßnahmen zu ergreifen, die den Binnenmarkt fördern und steuerliche Hindernisse beseitigen. Es muss immer ein direkter Zusammenhang mit der Funktionsweise des Binnenmarktes bestehen. Diese Maßnahmen erfordern jedoch die
    • Einstimmigkeit im Rat, was die Verabschiedung solcher Richtlinien erschwert, da die Interessen der Mitgliedstaaten oft stark divergieren. Zudem ist dieses an weiteren strengen Voraussetzungen geknüpft.
    • Nicht jede steuerliche Maßnahme kann harmonisiert werden. Eine Harmonisierung ist nur dann zulässig, wenn sie notwendig ist, um Hindernisse für den freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital zu beseitigen oder Verzerrungen des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarktes zu verhindern. Es besteht somit eine beschränkte Anwendung zur Harmonisierung des Art. 115 AEUV.
    • Des Weiteren müssen Maßnahmen auch das Subsidiaritätsprinzip beachten. Das bedeutet, dass die EU nur dann tätig werden darf, wenn die angestrebten Ziele auf nationaler Ebene nicht ausreichend erreicht werden können und daher eine EU-weite Regelung notwendig ist.
    • Die Maßnahmen müssen zudem verhältnismäßig sein, das heißt, sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung der Binnenmarktzielsetzung erforderlich ist.
  • Dilemma: Die Notwendigkeit der Harmonisierung, um den Binnenmarkt funktionsfähig zu machen, steht im Spannungsfeld mit der Schwierigkeit, die Einstimmigkeit im Rat zu erreichen. Jeder Mitgliedstaat verteidigt seine steuerpolitischen Interessen, was die Umsetzung harmonisierender Maßnahmen im Bereich der direkten Steuern herausfordernd macht.

Art. 26 Abs. 2 AEUV und Art. 115 AEUV sind für den Bereich der direkten Steuern von zentraler Bedeutung, da sie einerseits den freien Binnenmarkt garantieren sollen, andererseits aber auch die Möglichkeit bieten, über harmonisierende Richtlinien steuerliche Unterschiede zu beseitigen, die dem Binnenmarkt schaden könnten. Die praktische Umsetzung solcher Maßnahmen ist jedoch aufgrund der erforderlichen Einstimmigkeit im Rat sehr herausfordernd.

Steuerliche Binnenmarktrichtlinien

Die steuerlichen Binnenmarktrichtlinien, bestehend aus der Fusionsrichtlinie, der Mutter-Tochter-Richtlinie und der Zins- und Lizenzgebührenrichtlinie, hatten tiefgreifende Auswirkungen auf die grenzüberschreitenden Aktivitäten von Unternehmen innerhalb der EU.

Fusionsrichtlinie (90/434/EWG / 2009/133/EG): Diese Richtlinie beseitigte die steuerlichen Hemmnisse, die bislang bei Unternehmensfusionen bestanden, insbesondere das Risiko der Aufdeckung stiller Reserven. Vor 1993 war eine grenzüberschreitende Umstrukturierung oft mit erheblichen steuerlichen Belastungen verbunden, da stille Reserven aufgedeckt und sofort besteuert werden mussten. Die Fusionsrichtlinie schaffte Erleichterungen bei der Umstrukturierung von Unternehmen innerhalb der EU, indem sie eine Steuerneutralität bei Fusionen, Spaltungen, Übertragungen und Umwandlungen ermöglichte. Dies förderte die Bildung großer europäischer Konzerne und die Schaffung sogenannter EU-Champions, die auf dem globalen Markt wettbewerbsfähig waren.Mehr Informationen finden Sie hierzu

Richtlinie 2009/133/EG des Rates vom 19. Oktober 2009 über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, Abspaltungen, die Einbringung von Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener Mitgliedstaaten betreffen, sowie für die Verlegung des Sitzes einer Europäischen Gesellschaft oder einer Europäischen Genossenschaft von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat (europa.eu)

Mutter-Tochter-Richtlinie (90/435/EWG / 2011/96/EU): Diese Richtlinie beseitigte die Doppelbesteuerung von Dividenden zwischen Mutter- und Tochtergesellschaften in verschiedenen EU-Ländern. Vorher wurden Dividenden häufig sowohl im Staat der Tochtergesellschaft als auch im Staat der Muttergesellschaft besteuert. Die Richtlinie führte zu einer Befreiung von der Quellensteuer auf Dividenden und verhinderte so eine Doppelbesteuerung. Dadurch wurde die Bildung grenzüberschreitender Unternehmensstrukturen erleichtert und Kapital konnte effizienter innerhalb eines Konzerns allokiert werden. Mehr Informationen finden Sie hierzu

RICHTLINIE 2009/133/EG DES RATES
vom 19. Oktober 2009
über das gemeinsame Steuersystem für Fusionen, Spaltungen, Abspaltungen, die Einbringung von
Unternehmensteilen und den Austausch von Anteilen, die Gesellschaften verschiedener
Mitgliedstaaten betreffen, sowie für die Verlegung des Sitzes einer Europäischen Gesellschaft oder
einer Europäischen Genossenschaft von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat

Zins- und Lizenzgebührenrichtlinie (2003/49/EG): Diese Richtlinie schaffte die Doppelbesteuerung von Zins- und Lizenzzahlungen zwischen verbundenen Unternehmen in verschiedenen EU-Staaten ab. Vor der Einführung dieser Richtlinie führten Zins- und Lizenzzahlungen oft zu Steuerabzügen im Land des Zahlenden und gleichzeitig zu einer Besteuerung im Land des Empfängers, was die internationale Geschäftstätigkeit erschwerte. Die Richtlinie ermöglichte es Unternehmen, solche Zahlungen ohne Abzug von Quellensteuern vorzunehmen, was die Liquidität und Rentabilität internationaler Geschäfte erhöhte. Mehr Informationen finden Sie hierzu

RICHTLINIE 2003/49/EG DES RATES vom 3. Juni 2003 über eine gemeinsame Steuerregelung für Zahlungen von Zinsen und Lizenzgebühren zwischen verbundenen Unternehmen verschiedener Mitgliedstaaten

Auswirkungen auf deutsche Konzerne

Die Umsetzung dieser Richtlinien führte zur Aufbrechung der traditionellen nationalen Beteiligungsstrukturen und ermöglichte es deutschen Konzernen, ihre internationalen Aktivitäten ohne die zuvor bestehenden steuerlichen Hemmnisse auszubauen. Die Kapitalverkehrsfreiheit und die Niederlassungsfreiheit, die durch den Binnenmarkt gestärkt wurden, ermöglichten es neuen Investoren, sich leichter an deutschen Unternehmen zu beteiligen und förderten die Internationalisierung deutscher Unternehmen .

Durch die Harmonisierung der steuerlichen Rahmenbedingungen und die Beseitigung von Doppelbesteuerungen konnten deutsche Konzerne ihre Strukturen effizienter gestalten und besser mit anderen internationalen Unternehmen konkurrieren. Die steuerlichen Vorteile der Richtlinien trugen somit maßgeblich zur Internationalisierung sowie zur Entwicklung großer deutscher Konzerne und zur Schaffung eines wettbewerbsfähigen europäischen Binnenmarktes bei .